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Deutsche Migration und Kriegstrauma • Thema anzeigen - Von Leib und Seele

Von Leib und Seele

Von Leib und Seele

Beitragvon DMKadmin » Sa 12. Sep 2009, 11:18

Von Leib und Seele
Hans Ulrich Treichel (1992)

Der Ort, an dem ich geboren wurde und der einmal als DIE STADT DER WÜRSTE UND SCHINKEN in die Geschichte Ostwestfalens eingehen wird, war für mich nichts als eine trübsinnige Ansammlung von Zweifamilienhäusern und Umgehungsstraßen, von Möbelgeschäften und Fleischereien. Und die Menschen, die diesen Ort bevölkerten, erschienen mir immer als äußerst verschlossene und mißgünstige, einzig dem Gelderwerb und dem Alkohol ergebene Wesen, die mit mir, der ich durch eine bloße Laune des Schicksals in diese Welt hineingeraten war, nicht das mindeste verband. Doch nicht nur ich und meine beiden Brüder, auch meine Eltern blieben Fremde in diesem Ort, auch wenn sie es, obwohl sie aus dem Osten waren, Im Laufe der Zeit als Besitzer eines Lebensmittelgeschäftes zu einem gewissen Wohlstand und einem eigenen Haus in der Ortsmitte gebracht hatten. Diesen Wohlstand hatten sie allerdings nicht so sehr den Westfalen zu verdanken, die auch nach dem Krieg nur bei den einheimischen Händlern zu kaufen pflegten, sondern den vielen Vertriebenen und Flüchtlingen, die wie meine Eltern nach Westfalen gekommen waren und die sich ihnen aufgrund ihres gemeinsamen Schicksals verbunden fühlten. Doch nur wenigen war es gelungen, sich das aufzubauen, was meine Eltern eine selbständige Existenz nannten. Die meisten von ihnen arbeiteten in der gro ßen, aus roten Klinkersteinen erbauten Fleischfabrik, die in der Nähe meines Geburtshauses stand und von der man sich beängstigende Geschichten erzählte, die meine kindlichen Phantasien erregten und quälten und die mir den Genuß von Fleisch und Wurst bis heute zu einer verbotenen, mit hungrigem Widerwillen erfüllten Lust gemacht haben. Allerdings habe ich die Fabrik niemals betreten. Ich habe immer nur die in Gummistiefel und weiß-blau gestreifte Jacken gekleideten Männer und Frauen an unserem Haus vorbeiziehen sehen. Doch oft genug, wenn sie sich nach der Arbeit in unserem Geschäft mit Schnaps und Zigaretten versorgten, konnte ich ihre roten aufgequollenen Gesichter und ihre von Schnittwunden vernarbten Hände betrachten und noch lange, nachdem sie das Geschäft meiner Eltern verlassen hatten, roch es nach scharfem Gewürz und geräucherter Wurst. Ihr einziger Lohn, so schien mir damals, war die Gratisration Fleisch, die sie jeden Freitagnachmittag in weißen und feuchtrosa schimmernden Leinenbeuteln nach Hause trugen. Obwohl meine Eltern wie die meisten der Fabrikarbeiter ehemalige Kleinbauern waren, zählten sie bald zu den wohlhabenderen Leuten, die es nicht nur zu einem eigenen Geschäft, sondern auch zu einer schwarzen viertürigen Limousine gebracht hatten, die meist spiegelblank poliert in der Hofeinfahrt parkte. Doch diese Zeichen des Wohlstands standen meinen Eltern nicht zu. Denn wer aus dem Osten kam, der war in den Augen der Alteingesessenen ein minderwertiger und von seinem Grund und Boden wahrscheinlich völlig zu Recht vertriebener Mensch, und so fühlte auch ich mich in meinem Geburtsort zumeist als ein minderwertiger und aus einer mir zudem völlig unbekannten Heimat wohl zu Recht vertriebener Mensch, dessen einzige Chance innerer Selbstbehauptung darin bestand, auf meine beiden Brüder als noch minderwertigere Menschen herabzublicken, was allerdings auch umgekehrt für meine beiden Brüder galt, so daß wir uns in endlose Demütigungen verstrickten. Das hatte - zumindest für mich - den Effekt, daß ich nicht nur die Demütigungen meiner Brüder unablässig in mich hineinfraß, sondern auch alles andere, was ich in dem Ladengeschäft meiner Eltern für einigermaßen eßbar erachtete, und dabei sehr rasch zu einem fetten Kind wurde, das, je fetter es wurde, um so mehr von seiner Umwelt, den Nachbarn, Lehrern und Schulkameraden geschmäht wurde. Meine Eltern, denen die zermürbenden Feindseligkeiten ihrer Söhne ebenso entgingen wie meine langsame Verwandlung in ein übergewichtiges und süchtig-gereiztes Kind, da sie viel zu sehr mit ihrem ebenfalls zermürbenden Broterwerb beschäftigt waren, den sie jeden Tag aufs neue gegen den Neid und die Mißgunst der alteingesessenen Westfalen durchsetzen mußten, verschafften sich und auf fatale Weise auch mir einen gewissen Trost in der Wiederbelebung bäuerlicher Eßgewohnheiten. So waren denn auch die schönsten Stunden in der Familie die dem Essen geweihten Samstagabende, an denen es große Mengen selbstgemachter Grützwurst und zu Brei gekochten, mit Äpfeln versetzten Weißkohl gab. Die Gespräche während dieser abendlichen Vollereien drehten sich zumeist um die Vergangenheit und die verlorene Heimat meiner Ehern, von der ich mir allerdings nie ein genaues Bild machen konnte, außer, daß es sich um eine mit fettem Ackerboden gesegnete Gegend irgendwo im Osten handelte und daß diese Gegend einerseits zu Rußland, anderseits aber auch zu Polen gehörte und seit langem von Deutschen besiedelt und bewohnt wurde. Denn daß es sich bei meinen Eltern um wirkliche Deutsche handeln mußte, auch wenn sie von den Westfalen als Lebewesen einer eher niederen Art behandelt wurden, davon war ich nicht zuletzt deshalb überzeugt, weil sie bei den abendlichen Tischgesprächen von ihren im Osten zurückgebliebenen und dort schon immer ansässigen Mitmenschen auch als von Lebewesen einer eher niederen Art sprachen, ebenso wie es die Westfalen von ihnen zu tun pflegten. Eines dieser Lebewesen, das in den Erzählungen meiner Eltern einen äußerst bedeutenden Platz einnahm, war DER RUSSE. DER RUSSE war ganz ohne Zweifel die wichtigste Gestalt im Leben meiner Eltern, denn alles, was das Schicksal ihnen angetan hatte, hatten sie nur einem zu verdanken: DEM RUSSEN. Außer DEM RUSSEN gab es nichts mehr auf der Welt, was sie noch erschrecken konnte. Nicht einmal DER POLE, von dem meine Eltern immer dann gesprochen haben, wenn sie nicht von DEM RUSSEN gesprochen haben. DER POLE war für meine Eltern ein schäbiges und nicht ganz ernst zu nehmendes Wesen. Über den Polen haben sie Witze gemacht, und immer wenn ich sie gefragt habe, was denn der Pole eigentlich sei, habe ich einen von diesen Witzen zu hören bekommen, so daß ich am Ende nur eines begriffen habe: daß DER POLE für meine Eltern in ihrer alten Heimat ungefähr das gewesen sein muß, was sie und ihre Kinder für die Westfalen in ihrer neuen Heimat sind. Und so habe ich mich, der ich aufgrund meines Geburtsortes ein WESTFALE genannt werden könnte, in Wahrheit mehr als ein Pole denn als ein Deutscher oder gar Westfale gefühlt, obgleich auch für mich meine Eltern in erster Linie Menschen aus der Fremde waren, MENSCHEN AUS DEM OSTEN, mit denen mich, der ich in Westfalen geboren war, keine gemeinsame Herkunft verband. Zwar haben mich diejenigen, die schon immer, zumindest seit vielen Generationen, in meinem Heimatort lebten, niemals einen Polen genannt, der ich ja in Wahrheit auch nicht war, doch ich habe immer gespürt, daß sie auch mich für einen Menschen hielten, der aus dem Osten kam und mehr zu den Polen als zu ihnen, den Westfalen, gehörte. Doch wenn ich schon nicht zu ihnen, den Westfalen, gehören sollte, dann hatte ich lieber zu den Russen als zu den Polen gehört. Wohl war der Russe, das hatte ich aus den Erzählungen meiner Eltern gelernt, ein ebenso minderwertiger Mensch wie der Pole, doch war er zugleich auch ein gefährlicher, ein schreckenerregender Mensch. Ich erinnere mich daran, wie meine Eltern einen ganzen Abend mit Bekannten, die ebenfalls wie sie AUS DEM OSTEN nach Westfalen gekommen waren, um den Tisch saßen und darüber stritten, ob es auch einen GUTEN RUSSEN geben könne, denn einer der Bekannten erzählte, daß ihn einmal AUF DER FLUCHT VOR DEM RUSSEN mitten auf der Landstraße ein Russe zuerst angehalten und dann unbehelligt habe passieren lassen, obwohl er ihn doch genausogut erschießen oder mit einem Stiefeltritt das Nasenbein hätte zertrümmern können. Hierbei müsse es sich also, so der Bekannte, unzweifelhaft um einen guten Russen gehandelt haben, was aber von meinen Eltern sogleich bestritten wurde, sie meinten vielmehr, daß es sich bei diesem Russen wie bei allen anderen Russen auch ganz ohne Zweifel um einen bösen Russen gehandelt habe, der allerdings, und das sei das Ungewöhnliche, nur zu träge war, Böses zu tun.
Obwohl die abendlichen Gespräche meiner Eltern fast ausschließlich von ihrer verlorenen Heimat und ihrem Leben IM OSTEN handelten, habe ich mir niemals eine klare Vorstellung von der Herkunft meiner Eltern und dem, was sie den Osten nannten, machen können. Ich habe Namen und Worte gehört, die ich nicht verstanden habe, und auf meine Fragen nach der Bedeutung dieser Namen und Worte haben meine Eltern immer nur mit neuen Namen und Worten geantwortet, die ich ebensowenig verstanden habe. Beispielsweise der Name PREUSSISCH-HOLLAND, der unter einer an unserer Wohnküchenwand hängenden Fotografie stand und den Ort bezeichnete, an dem mein Vater seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Ich habe diese Fotografie Tag für Tag gesehen und diesen Namen Tag für Tag gelesen, und das über mehr als anderthalb Jahrzehnte hinweg, und ich habe meine Eltern wohl Hunderte Male nach diesem Ort und diesem Namen gefragt. Doch es ist mir nie gelungen, auch nur die Andeutung einer Erklärung zu dieser Fotografie und zu diesem Namen zu bekommen. Alle Antworten, die mir gegeben wurden, haben immer nur die verwirrendsten und abwegigsten Geschichten hervorgebracht, in denen neue Namen, Jahreszahlen, Ereignisse auftauchten und die meine Fragen erstickten und erledigten, so daß ich mir in meinen kindlichen Phantasien ausgemalt habe, daß mein Vater, der allem Anschein nach aus Preussisch-Holland stammte, sowohl aus Preußen als auch aus Holland stammen mußte, obwohl er doch, was ich ja wußte, aus dem Osten kam. Und da niemand zugleich aus Preußen als auch aus Holland stammen kann, wenn er aus dem Osten kommt, beschloß ich, nie wieder auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Ort und an diese Frage zu verschwenden und meine Eltern als herkunft- und antwortlos zu erklären. Doch diese herkunft- und antwortlosen Wesen, die meine Eltern irgendwann einmal für mich geworden sind, haben mir immer wieder neue Geschichten erzählt und mir immer wieder neue Antworten auf meine nun nicht mehr gestellten Fragen gegeben, und mit jeder weiteren Geschichte und mit jeder weiteren Antwort hat sich die Wahrheit über die Herkunft meiner Eltern, die ja nicht zuletzt auch die Wahrheit über meine eigene Herkunft war, immer weiter verzweigt.

Schließlich war ich überzeugt davon, daß meine Eltern sowohl aus Polen als auch aus Rußland, zugleich aber auch aus Schwaben stammten, denn sie haben nicht nur immer wieder russische und polnische Worte benutzt, PSCHIAKREFF PIRONNJE hieß eines davon, sondern auch schwäbische. Diese hatten wiederum mit der Herkunft ihrer eigenen Vorfahren zu tun, die, wie ich später erfahren habe, zu Zeiten der Zarin Katharina aus Schwaben nach Rußland und Polen ausgewandert waren und deren Nachkommen nach dem Krieg von den Russen und Polen vertrieben worden sind und noch immer, wie meine Tante Martha, die alle nur DAS BÄSLE MARTHA nannten, ihr althergebrachtes, wenn auch östlich verfremdetes und für in Schwaben lebende Schwaben möglicherweise gänzlich unverständliches Schwäbisch sprachen. Das Bäsle Martha hatte sich, im Unterschied zu meinen Eltern, mit vielen anderen zumeist äußerst frommen Mitgliedern ihrer Heimatgemeinde in Niedersachsen niedergelassen und dort die sogenannte Brüdergemeinde Neugnadenfeld gegründet, die bis heute von frommen und nach wie vor mehr schwäbischen als niedersächsischen Menschen bewohnt wird. Leider hat sich die Frömmigkeit meiner Base Martha nicht auf ihren neugegründeten Heimatort Neugnadenfeld beschränkt. Sie fühlte sich vielmehr auch für die Frömmigkeit ihrer in Westfalen lebenden Verwandten zuständig und hat sich demzufolge auch für meine Frömmigkeit zuständig gefühlt, so daß ich, immer wenn das Bäsle Martha in meinem Ehernhaus zu Gast war, beständig dem Missionstrieb meiner frommen Tante ausgesetzt war, der sich vor allem darin ausdrückte, daß sie mich als das jüngste Kind der Familie zu regelmäßigen abendlichen Gebeten anhielt, die wir, gemeinsam vor meinem Kinderbett kniend, beteten. Am liebsten betete meine Tante ein Gebet, das mit den Zeilen »Breit aus die Flüglein beide, O Jesu meine Freude, und nimm dein Küchlein ein« begann und das ich, obwohl ich es unzählige Male gebetet habe, niemafs wirklich verstand. Es war - neben den Flügeln, schließlich war Jesus kein Engel - vor allem das Küchlein, das mich verwirrte, und unter dem ich mir nichts anderes vorstellen konnte als einen kleinen Kuchen, es mir andererseits aber völlig unpassend erschien, jeden Abend ein Gebet zu beten, in dem Jesus aufgefordert wurde, Kuchen zu essen. Da ich die abendlichen Gebete mit zunehmendem Alter nur noch als Tortur empfunden habe und sie in mir keinerlei religiöse Gefühle weckten, wohl aber die Gewißheit, ein ungläubiger und heuchlerischer Mensch zu sein, habe ich eines Abends aus kindlichem Trotz nicht das gemeinsame »Amen« nach unserem Gebet gesprochen, sondern die für mich wohl unverständlichen, aber äußerst boshaft klingenden Worte »Pschiakreff Pironnje«, die ich von meinem Vater kannte. Daraufhin hat meine Tante nie wieder mit mir gebetet, sich aber bitter bei meinen Eltern über mich beklagt. Glücklicherweise haben mir meine Eltern dieses »Pschiakreff Pironnje« niemals wirklich übel genommen, denn noch heute klingt mir das Gelächter in den Ohren, das die Erzählung von meiner Untat im Kreise der Verwandten und Bekannten auslöste, die wie meine Eltern als Vertriebene nach Westfalen gekommen waren und ganze Sonntage in unserer Wohnküche damit zubrachten, sich an das zu erinnern, was sie den Osten nannten und wo ihre Heimat war.
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