Durch eine bewegende Fortbildungswoche in Lindau am Bodensee sah ich meine Familiengeschichte unter einem anderen Licht.
Meine Eltern kamen beide aus Westpreußen und hatten durch den 2. Weltkrieg ihre Heimat verlassen müssen. Fast alle meine Verwandten lebten im Osten. Sie hatten es aber irgendwann nach dem Krieg geschafft sich an den verschiedensten Orten eine neue Existenz aufzubauen. Bei Familienfeiern traf man sich regelmäßig und dabei wurden u.a. auch die einzelnen Kriegsschicksale erzählt.
Die Männer berichteten von ihren Erlebnissen an er Front und in der Gefangenschaft. Die Frauen erzählten ihre Geschichte von der Flucht, die sie zum Teil mit sehr kleinen Kindern und meiner alten Großmutter bewältigen mußten. Einige sind mit Pferd und Wagen, meine Eltern mit dem Zug und einige sind zu Fuß geflüchtet. Die Frauen sind zum Teil vergewaltigt worden. Eine Cousine meiner Mutter ist dabei sogar von einem russischen Soldaten schwanger geworden und hatte lange ein Problem ihr Kind zu akzeptieren.
Einige meiner Verwandten sind gut integriert. Meine Mutter ist niemals im Westen heimisch geworden. Auch ich habe während der Schulzeit wahrgenommen, dass ich anders bin als die anderen Kinder in der Nachbarschaft. Alle waren katholisch und ich war als einzige evangelisch. Deshalb mußte ich eine andere Grundschule besuchen und verlor so den Anschluß zu den anderen.
Daß ich kein Heimatgefühl habe, ist mir erst als Erwachsene aufgefallen. Das hat dann dazu geführt, dass ich immer weg wollte, aber nie wußte wo ich hingehöre. Meine Heimat ist nicht Westpreußen, aber in Niedersachsen bin ich nicht wirklich verwurzelt.
Seitdem ich mich mit den Folgen des zweiten Weltkrieges beschäftige, habe ich viele Menschen getroffen, die auch kein Heimatgefühl haben.
Oder Sorge haben nicht aufzufallen, da die Eltern als Flüchtlinge schon ausreichend aufgefallen sind. Dieses Gefühl haben sie an die Kinder weiter gegeben.
Ich habe Menschen kennengelernt, die sich erst jetzt erklären können, warum die Eltern sich so seltsam verhalten haben. Die zum Beispiel seltsam sentimental zu Weihnachten wurden, weil sich dann an die verlorene Kindheit erinnert haben.
Ich habe Männer kennen gelernt, die noch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht über ihre traumatischen Kriegserlebnisse geredet haben und unter nächtlichen Träumen litten, in denen die Erinnerungen sie immer wieder überwältigten.
Ich habe Frauen kennen gelernt, die durch die verdrängten Erlebnisse der Mütter und Großmütter Probleme mit der Nähe von Männern hatten.
Ich habe angefangen mich zu fragen, wie die Menschen in so einem furchtbar zerstörten Land überhaupt überleben und weiter leben konnten.
Ich habe angefangen mich zu fragen, wie Menschen mit so schweren Traumata in ihrem Leben zurecht gekommen sind.
Ich habe angefangen das sogenannte Weltwirtschaftswunder unter einem anderen Blickwinkel zu sehen, als den Versuch alles so schnell wie möglich wieder aufzubauen und nur zu vergessen.
Wir Deutschen werden häufig von den übrigen Europäern belächelt, dass uns Leichtigkeit und Lebensfreude fehlt. Wie kann man Leichtigkeit empfinden, wenn fast ein ganzes Volk ein verdrängtes Trauma mit sich trägt. Angesichts dessen, ist es noch erstaunlich, wie gut die Meisten noch funktionieren.
Vielleicht haben auch Sie jetzt Lust und Mut bekommen ihre eigene Geschichte und ihre Erfahrungen hier im Forum mitzuteilen bzw. zu meinen oder anderen Beiträgen Anregungen und Kommentare abzugeben.
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