MEINE GROSSE FLUCHT von Hildegard A.

MEINE GROSSE FLUCHT von Hildegard A.

Beitragvon DMKadmin » Di 21. Jul 2009, 17:10

von: Hildegard A.; geboren 1915 in Westpreußen

Meine Familie lebte in Westpreußen. Meine Familie und die Familie meines Mannes waren über Generationen selbständige Landwirte.
Wir lebten in jenem Teil, der nach dem 1. Weltkrieg durch den Versailler Vertrag an Polen abgetreten werden mußte. Man nannte diesen Teil den sogenannten Korridor. Durch diesen Landstrich erhielt Polen einen Zugang zur Ostsee. In Verlauf des 2. Weltkrieges eroberte Hitler dieses Gebiet wieder zurück. Dieses hatte zur Folge, dass die deutschen Männer in die Wehrmacht einberufen wurden. Somit befanden sich alle Männer im wehrfähigen Alter im Kriegsdienst. Die Frauen waren mit den Kindern und den Alten zu Hause und auf sich gestellt.

Mein Mann und ich waren Ende zwanzig und hatte eine kleine Tochter, die 1 ½ Jahre alt war. Mein Mann war als Funker auf einem Flugplatz in Westdeutschland in der Nähe von Osnabrück stationiert. Es war großes Glück und ich glaube auch eine Fügung, dass er Weihnachten 1944 noch Heimaturlaub bekam. Dadurch, dass die Funker verbotenerweise im ihrem Dienst in der Nacht heimlich den englischen BBC abhörten, war er informiert, dass es um den Krieg schlecht stand.

Im Januar 1945 kam die Ostfront, dass heißt die Russen kamen uns immer näher. Tag und Nacht hörten wir das Kanonenrollen, wie ein fernes Gewitter und es wurde von Tag zu Tag lauter. Die letzten Nächte haben wir uns mehr entkeidet und kaum geschlafen.
Es wurde deutlich, dass wir die Heimat verlassen mußten. Aber es gab noch keine Genehmigung, abzufahren zu verlassen. Dennoch hat mein Mann bei seinen Schwestern und der Mutter und auf unserem Hof die Pferdewagen für die Flucht vorbereitet. D.h. er stattete die Wagen mit einer stabilen Plane gegen den Schnee und die Kälte aus und packte so viel Pferdefutter hinauf, wie es möglich war. Später sollte noch das Gepäck aufgeladen werden. Alle warteten nur auf den Befehl abzufahren. Wir waren alle sehr aufgeregt und durcheinander. Aber, wenn wir gewußt hätten, was uns tatsächlich bevor stand, wäre es wohl noch schlimmer alles gewesen. Offiziell wurde immer noch von Sieg gesprochen und das wir lediglich in ein anderes Gebiet evakuiert werden und nach 4 bis 6 Wochen zurück können.
Dann plötzlich hieß es, dass die Frauen und kleine Kinder raus können. In aller Eile packten wir einige Sachen zusammen. Aber in dem ganzen Wirrwarr nicht gerade das, was man am nötigsten gebraucht hätte. Trotzdem hatten wir zuletzt nur ein Viertel von dem, was wir mitgenommen hatten.

Dann am 20. Januar 1945 war es so weit. Früh morgens, es war noch dunkel, laden wir unsere paar Habseligkeiten auf den Schlitten und den Kinderwagen mit unseren kleinen Tochter Karin drin. Mein Stiefvater holte die Lotte aus dem Stall und spannte sie vor den Schlitten. Es war ein sehr kalter Morgen; 20 Grad minus. Der Schnee knirschte unter den Füssen. Der Mond schien hell, vielleicht war es gerade Vollmond. Wir fuhren los. Der Stiefvater brachte uns zum Bahnhof, der ungefähr 5 bis 6 Kilometer entfernt war. Wir sprachen unterwegs kein Wort, jeder hing seinen Gedanken nach. Es herrschte an dem Morgen sowieso eine seltsame Stille. Auch der Kanonendonner war vorüber gehend verstummt. Nur die Schlittenglocken bimmelten an Lottes Geschirr, die nichts ahnend brav dahin trabte. Irgendwie war es furchtbar ins Ungewisse zu fahren und mein Puls schlägt heute noch schneller, wenn ich daran denke. Wir verabschiedeten uns kurz vom Stiefvater. Wir wußten nicht, dass wir uns zum letzten Mal sehen.
Auf dem Bahnhof arbeitete unser Schwager als Bahnhofsvorsteher. Wir gaben noch, naiv wie wir waren, einige Gepäckstücke, u.a. eine Sack mit Betten auf. Das haben wir nie wieder gesehen.

Es war ein Glück, dass mein Mann in Urlaub gekommen war und uns begleiten konnte. Ich glaube, wenn ich alleine mit dem kleinen Kind gewesen wäre, hätte ich es wohl nicht geschafft und wäre unter die Räder gekommen. Endlich kam der Zug und wir fuhren erst bis in die nächste größere Stadt, ca. 20 Kilometer entfernt. Dort mußten wir umsteigen und da saßen wir dann den ganzen Tag auf dem Bahnhof. Es wurde kein Zug ausgerufen. Aber wie man später erfahren hat, sollen sich zuerst die Parteibonzen in Sicherheit gebracht haben.
Die Menschen im Wartesaal waren alle sehr aufgeregt. Alle hatten Angst, dass die Weichselbrücke gesprengt würde und wir nicht mehr weg kommen. Da saßen wir nun den ganzen Tag auf dem Bahnhof. Wir trafen dort meinen Onkel, der Lokführer war. Unser Plan war es, dass ich bis Pommern fahren sollte. Dort hatte ich Verwandte und hoffte das Ende des Krieges abwarten zu können. Mein Onkel meinte jedoch, dass die Sache ziemlich brenzlig aussähe und wir am Besten gleich bis nach Celle fahren sollten, wo seine Familie lebte. Dafür hatten wir aber keine Meinung.
Dann endlich – es wurde schon wieder dunkel – fuhr ein Zug nach Westen. Auf dem Bahnhof gab es gleich eine große Schlacht, jeder wollte mit. Fenster wurden eingeschlagen. Koffer wurden durch die Fenster geworfen. Eine Frau stieg durchs Fenster direkt in meinen Kinderwagen. Karin wurde fast zertreten. Ich gab der Frau einen Stoß und sie fiel zwischen die Gepäckstücke. Als sie sich aufgerappelt hatte, haben wir uns geprügelt. Ich dachte das fängt ja gut an. Aber endlich setze sich der Zug in Bewegung. Es zog nur fürchterlich bei der Kälte durch die eingeschlagenen Fenster. Aber daran dachte bald keiner mehr, nur weg von der Front. Alle atmeten auf, als wir endlich über die Weichselbrücke waren. Dann ging es einigermaßen voran.

Wir sind bis Neustettin in Pommern einigermaßen zügig gefahren. Dort in der Nähe lebten meine Verwandten in einem kleinen Ort. Wir stiegen aus und ich wartete auf dem Bahnhof. Mein Mann ging ca. drei Kilometer zu Fuß zu meinen Verwandten. Der Onkel hat dann ein Pferd an den Pferdeschlitten angespannt und mich mit dem Kinderwagen und dem kleinen Kind vom Bahnhof abgeholt. Ich weiß nicht genau, wie lange wir unterwegs waren, aber es war ein wunderbares wohliges Gefühl in ein warmes Haus zu kommen. Auch dort hatten sie die anheimelnden Kachelöfen. Auch hatten wir die ganze Zeit nichts Warmes zu Essen und zu Trinken gehabt. Ich hoffte jetzt bei meinen Verwandten bleiben zu können bis unsere Wehrmacht die Russen zurück schlagen würde und hoffte anschließend wieder nach Hause zurück zu können. Aber irgendwie schien es so, als ob die Front hinter uns her kommt. Mein Onkel wollte unter keinen Umständen flüchten. Er sagte immer: „Wo sollen wir den alle hin?“ Wir hielten uns 2 Tage in Pommern auf, da mußte mein Mann weg, denn seine Urlaubszeit war in wenigen Tagen zu Ende.
Er ging wieder zu Fuß zum Bahnhof nach Neustettin zurück. Aber in diesen paar Tagen war auch ganz Pommern schon in Aufruhr geraten. Überall ein großes Durcheinander. Auch hier fingen die Leute an zu flüchten. Und ganz Ost- und Westpreußen war unterwegs.
Es fuhr dann auch den ganzen Tag kein Zug. So entschloß sich mein Mann mit dem Güterzug zu fahren, der gerade auf dem Bahnhof stand. Er kroch auf einen der Güterwagen, aber der Güterzug machte auch keine Anstalten weiter zu fahren. So hatte er die Gelegenheit sich das Treiben und Elend der Flüchtlinge anzusehen. Es gingen ihm einige Gedanken durch den Kopf. Es wurde ihm klar, in welchem Hexenkessel er uns zurück gelassen hatte. In dem Moment, als der Güterzug abgepfiffen wurde und sich in Bewegung setzte, sprang er hinunter und der Zug fuhr ohne ihn ab. Es hat wohl so sein sollen. Er machte den Weg wieder zu Fuß zurück und kam gegen Abend wieder bei meinen Verwandten an. Ich war schockiert, als er sagte, dass ganz Pommern unterwegs sei und dass er es nicht verantworten könne uns dort in dem Wirrwarr zurück zu lassen. Ich konnte das nicht so beurteilen und es kann sich niemand vorstellen, wie mir zu Mute war. Wieder hinaus in die Kälte mit dem kleinen Kind, in das Ungewisse. Wieder zwischen gehetzten und umher irrenden und verängstigten Menschen. Es war eine Qual für mich. Aber es nützte nichts. Ich packte meine paar Habseligkeiten zusammen. Einiges ließen wir noch dort. Wir hatten eingesehen, dass ich neben dem Kinderwagen keinen Koffer mehr tragen konnte. Es war überall ein Gedränge und Geschiebe, jeder dachte nur an sein eigenes Leben. Jedenfalls hat der Onkel wieder seine Pferde vor den Schlitten gespannt und uns zum Bahnhof gefahren. Es war fast Abend. Wir verabschiedeten uns kurz. Wir haben uns nie wieder gesehen.
Zu unserer größten Überraschung stand tatsächlich ein Zug auf dem Bahnhof. Der Zug war zwar überfüllt, aber wir versuchten mit allen Kräften noch hinein zu kommen und irgendwie schafften wir es auch. An einen Sitzplatz war natürlich nicht mehr zu denken. Wir mußten im Vorraum stehen bleiben. Man kann es sich nicht vorstellen, aber in den zwei Tagen unseres Aufenthaltes in Pommern, hatte sich das Durcheinander wesentlich vergrößert.
Jedenfalls waren wir im Zug und da die Züge ohnehin nur noch nach Westen fuhren, war es uns egal wo der Zug hinfuhr. Das Zugpersonal war überfordert und konnte keine Auskunft mehr geben. Fahrkarten gab es auch nicht mehr. Jeder fuhr umsonst.
Der Zug machte lange keine Anstalten zum Weiterfahren. Als wir uns etwas auf die Mitreisenden konzentrierten, sahen wir eine Frau die bitterlich weinte. Sie hielt eine gefüllte Babyflasche in der Hand. Wir erkundigten uns bei Nebenstehenden, was passiert war. Und hörten, dass der vorherige Zug stundenlang auf dem Bahnsteig gestanden hatte. Die Frau hatte drei Kinder bei sich. Weil es aber keine festen Fahrplan mehr gab und kein Mensch – auch nicht das Bahnpersonal –Auskunft geben konnte, wann der Zug weiterfährt, wagte die Frau es lange nicht auszusteigen, um Milch zu besorgen. Als das jüngste Kind aber zu unruhig wurde und der Zug schon so lange stand, bat sie eine Mitreisende ihre Kinder doch einen Moment zu beaufsichtigen. Sie wollte schnell bei der Bahnhofsmission Milch holen. Während dieser kurzen Zeit – die Frau war schon wieder auf dem Rückweg – fuhr der Zug mit den Kindern davon und niemand wußte wohin. Keiner konnte ihr helfen. So war die Mutter von ihren Kindern getrennt. Ungewiss, ob und wann sie sich wieder sehen werden. Auf diese und ähnliche Weise sind viele Familien auseinander gerissen worden. So blieb der Frau nichts anderes übrig, nachdem sie stundenlang auf dem Bahnhof herum geirrt war, in den nächsten Zug zu steigen und alleine weiter zu fahren.
Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Wegen der Gefahr eines Tieffliegerangriffes fuhren die Züge fast nur Nachts. Es durfte auch kein Licht angemacht werden. Wir standen da nun und zockelten langsam durch die Nacht. Nach einiger Zeit hatten wir das Gefühl, dass unsere Füsse immer heißer werden. Die Fußsohlen brannten. Wir konnten es vor Hitze kaum noch aushalten. Es war aber auch kein Platz, dass wir uns auf eine andere Stelle hätten stellen können. Wir haben immer abwechseln ein Bein hochgehalten und standen auf einem Bein, um die Hitze zu ertragen. Endlich, als die Hitze nicht mehr erträglich wurde, hielt der Zug auf einem Bahnhof. Ein Bahnangestellter rannte mit der Taschenlampe den Bahnsteig entlang. Er stellte dann fest, dass sich die Achse von unserem Wagen heißgelaufen hatte. Wir mußten alle aussteigen und auf einen anderen Zug warten. Zum Glück waren wir auf einem Bahnhof und im Wartesaal vor Wind und Wetter geschützt. Es war nur problematisch weiter zu kommen. Die Züge waren alle überfüllt und konnten kaum noch Fahrgäste aufnehmen. Irgendwann sind wir aber dann weiter gekommen. Es sollte nach Stettin gehen. Aber der Zug fuhr immer um Stettin herum und bekam keine Erlaubnis für die Einfahrt. Auch der Zugverkehr war vollkommen durcheinander. Als wir endlich in Stettin eintrafen, mußten wir umsteigen. Wir hatten aber Glück. Es wurde bald ein Zug eingesetzt und wir hatten sogar Sitzplätze. Den Kinderwagen mit Karin mußten wir jedoch im Gang stehen lassen.

Mein Mann hatte auf den Bahnhöfen immer Schwierigkeiten, da er in Unform war. Überall tauchten Militärstreifen auf. Alle Soldaten, die sie noch finden konnten, kamen an die Ostfront. Mein Mann wurde so beim Warten auf einen Zug auch zweimal abgeführt. Beim Abführen hat es sich dann immer geschickt von der Gruppe abgesetzt und ist über einen Zaun gesprungen und hat im Verborgenen auf den nächsten Zug gewartet.

So zuckelte der Zug langsam durch die Nacht. Plötzlich gab es einen fürchterlichen Ruck. Alles fiel durcheinander. Ich arbeitete mich durch den Gang. Der Kinderwagen war bis an das Ende des Ganges gerollt. Ich dachte nur an Karin. Ich bekam einen großen Schreck und sah einen hellen Schein und da konnte ich den Kinderwagen stehen sehen. Zum Glück war Karin nichts geschehen. Inzwischen kamen mehr Passanten dazu. Nun sahen wir hinter unserem Wagen, die Lichter einer anderen Lokomotive. Hinter unserem Wagen waren nur noch zwei Gepäckwagen. Die waren beide umgestürzt. Wir hatten noch Glück im Unglück, da unser Wagen nur entgleist war. Aber jetzt ging das Drama los. Wir mußten aus dem Wagon aussteigen und dieser wurde auf ein Abstellgleis geschleppt. Unser Gepäck war so verstaut, dass wir daran kamen. Die Leute aber, deren Gepäck in den umgestürzten Wagen war, kriegten es nicht mehr heraus. Es gab ein großes Geschrei. Manche griffen die Eisenbahner an. Um die Leute zu beruhigen, gaben die Bahnbeamten Bescheinigungen aus, dass sich ihr Gepäck in den umgestürzten Wagen befand. Die sahen aber ihr Gepäck nie wieder.
Nun ging es sehr schnell. Es war nicht möglich, dass wir in den übrigen Wagen untergebracht werden. Vielleicht wäre es möglich gewesen, aber in der Dunkelheit konnten wir nicht viel unternehmen. Die Züge fuhren einfach ab und jeder blieb sich selbst überlassen. So standen wir mitten in der Nacht im tiefen Schnee bei eisiger Kälte und sahen den Schlußlichtern nach. Wir wußten nicht, wo wir waren. Wir wußten nicht, ob es besser ist weiter zu gehen oder zum letzten Bahnhof zurück zu gehen. Einigen schlugen eine Richtung ein. Wir gingen ihnen nach. Wir wissen nicht, ob alle mitgegangen sind. Wir orientierten uns an den Bahnschienen. Es gab keinen ausgetretenen Weg. Im tiefen Schnee war es mit dem Kinderwagen sehr schwierig voran zu kommen. Es ging etwas besser, wenn wir den Kinderwagen zogen. Alleine hätte ich es niemals geschafft. Wir gingen und gingen und es war kein Licht zu erkennen, kein Mond, kein Stern. In der Ferne hörte man manchmal Hunde bellen. Es war unheimlich. Wir hatten lange nichts gegessen, nicht geschlafen, waren müde und durchgefroren. Aber die Angst um das nackte Überleben ließ uns das vergessen und trieb uns vorwärts. Ich weiß nicht, wie lange wir gegangen sind, aber plötzlich sahen wir in der Ferne ein mattes Licht. Wir beschleunigten unsere Schritte und tatsächlich, nach ein paar hundert Metern landeten wir auf einem kleinen Bahnhof. Der Bahnhof verfügte nur über einen kleinen Wartesaal. Es war wenig beheizt und es zog an allen Ecken und Enden, aber man nahm kaum Notiz davon Es war fast alles im Dunkeln. Wegen der Tiefflieger mußten die Fenster verdunkelt werden. Die wenigen Sitzplätze waren besetzt. So setzen wir uns erschöpft von dem langen Fußmarsch auf den Fußboden. Aber zur Ruhe kamen wir nicht. Ein älterer Mann war verwirrt und hatte die Nerven verloren. Es war ihm wohl alles zu viel geworden. Er meinte etwas verloren zu haben. – Das hatte er ja auch. – Er dachte, dass wir es ihm weggenommen hatten und machte sich an unseren letzten Habseligkeiten heran. An Schlaf war da nicht zu denken, aber man konnte etwas die Beine ausruhen.
Mein Mann war öfters hinaus gegangen, um zu sehen, ob ein Zug kommt. Es fuhren viele Züge, manche hielten kurz, die meisten fuhren durch. Alle waren überbesetzt. Die meisten waren Lazarettzüge mit verwundeten Soldaten von der Ostfront. Es bestand überhaupt keine Möglichkeit von dem kleinen Bahnhof wegzukommen. Inzwischen hatte es noch angefangen zu schneien. Gegen Morgen hielt ein Güterzug an. Wir sind dann einfach auf den offenen Viehwagen geklettert. Darauf lagen ein paar Säcke. Eine hochschwangere Frau stieg auch noch mit auf. Mein Mann war ihr behilflich. Wir legten eine Decke über den Kinderwagen. Karin gab keinen Laut mehr von sich. Ich kauerte mich auf einen Sack. Trotzdem ich zwei Mäntel an hatte, schmerzten meine Glieder vor Frost. Die schwangere Frau bekam Schmerzen. Höchstwahrscheinlich setzten durch die ganze Aufregung die Geburtswehen ein. Ich bekam große Angst, dass sie da im Schnee und Frost noch entbinden würde. Endlich nach ein paar Stunden Fahrt landeten wir auf einem größeren Bahnhof und der Zug hielt. Ich glaube es war in Mecklenburg. Unsere Knochen waren steif gefroren. Wir kamen kaum von dem Wagen herunter. Wir klopften den Schnee ab. Die Frau wurde in ein Krankenhaus transportiert. Wir schauten uns nach einem weiter fahrenden Zug um. Da stand tatsächlich ein Zug bereit zum Abfahren. Wir wollten noch einsteigen, aber der Zug war überfüllt. Der Schaffner wollte gerade den Zug abpfeifen. Einige N.S.V. Schwestern, die auf dem Bahnsteig herum liefen, sahen unseren verschneiten Kinderwagen. Eine schlug dem Schaffner die Kelle aus der Hand und schrie das Kind muß vom Bahnsteig. Eine andere machte eine Zugtür auf und schob mich hinein. Ich fiel auf Gepäckstücke. Karin mußte aus dem Kinderwagen raus und wurde mir in den Wagen gereicht. Der Kinderwagen hatte keinen Platz mehr in dem Abteil, darum hat mein Mann ihn außen an den Wagen gebunden. Ich war den Tränen nahe. Im letzten Moment wurde mein Mann auch noch in den Zug gestossen. Sofort setzte sich der Zug in Bewegung. Jetzt mußten wir erst sehen, dass wir die Beine an den Boden bekamen . Da gab es großen Krach und Prügelei, weil mein Mann angeblich eine Tasche mit Broten auf die Toilette gestellt hatte, die einer Frau gehörte.

Mit den Toiletten war es auch so ein Problem. Wer nicht nah daran saß, kam dort nicht hin. Die Männer hatten es einfacher. Die machten ihr Geschäft durch die Fenster. Eine Frau hatte zufällig ihr Nachtgeschirr bei sich und reichte es den Frauen herum. Die mußten wo sie gerade standen oder saßen ihr Notdurft verrichten. Es war schrecklich. Wenn der Zug mal hielt, stiegen die Leute aus und machten ihre Notdurft auf die Bahngleise.

Der Zug kam langsam voran. Manchmal hielt er stundenlang auf freier Strecke. Wir hatten lange nichts gegessen. Einige Leute stiegen aus und machten Schneebälle und reichten sie durch die Fenster hinein. Wir leckten daran, um unseren Durst zu stillen. Zum Glück hatten wir einen kleinen Gaskocher mit. Da konnten wir Schnee auftauen und etwas Tee für Karin kochen. Sonst hätte sie sicher nicht überlebt. Einmal wurde etwas frisch gemolkene Kuhmilch von einem Gut gebracht und wurde an die Babys verteilt.
Ein großes Problem war es mit den Windeln. Es gab damals natürlich noch keine Pampers o.ä. Wer dachte auch an so eine lange Reise. So hatte ich zum Schluß keine trockene und saubere Windel mehr. Auf einem Bahnhof stand eine alte Pumpe. Da habe ich im eiskalten Wasser ein paar Windeln notdürftig ausgespült. Wir kletterten dann auf die Lok. Die Lokomotiven wurden damals mit Kohle angetrieben. Der Lokomotivführer öffnete dann die große eiserne Feuertür. Wir haben dann versucht die Windeln in der Wärme zu trocknen. Die Glut gab zwar eine ungeheure Hitze ab, dennoch war es kaum möglich die Windeln zu trocknen. Man hätte stundenlang dort stehen müssen.
Für die kleinen Kinder, die alten und kranken Menschen sowie für die schwangeren Frauen war es am Schlimmsten. Wir waren gerade im besten Alter mit Ende Zwanzig. So haben wir diese Strapazen einigermaßen überstanden. Karin hat wohl auch einen Knacks für ihr Leben bekommen. Sie war immer kränklich. Kinder sind auf der Flucht erfroren. Babys sind oft nach der Geburt gleich gestorben. Wenn der Zug auf dem Bahnsteig hielt, haben wir oft gesehen, dass Leichen weggebracht wurden. Wenn man nicht ständig an das eigenen Überleben gedacht hätte, ich glaube, dann hätte man es nicht verkraftet.
Es kam wieder eine Nacht und der Zug stand irgendwo auf freier Strecke. Die Toilette war eingefroren. Wir standen zuletzt im Vorraum bis zu den Knöcheln in Jauche. Es stank bestialisch. Karin lag auf Gepäckstücken. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als der Morgen graute, sah man in der Ferne zwei Strohstacken. Mein Mann und ein jüngerer Mann machten sich auf, um Stroh zu holen. Ich hatte große Angst, dass der Zug inzwischen weiterfahren könnte. Doch es ging gut. Sie kamen mit zwei Ballen Stroh zurück. Das Stroh wurde unter den Füssen verteilt., dass wir einigermaßen im Trockenen stehen konnten. Wir hofften nun, dass es bald wieder weiter gehen würde. Aber wir hatten uns geirrt. Plötzlich wurde die Lok abgekoppelt und fuhr alleine davon und wir hatten das Nachsehen. Nun standen wir fast schon den ganzen Tag eingepfercht mit steifen Gliedern und leerem Magen. Es war trostlos. Wenn ich heute darüber nachdenke, kann ich es nicht begreifen, wie wir das alles überstanden haben. Der Tag ging langsam zu Neige. Wir machten uns langsam mit dem Gedanken vertraut, dass wir wohl die Nacht so verbringen würden. Da endlich kam ein Zug auf der Nebenstrecke mit einer sehr kleinen Lok. Der Zug fuhr langsam vorbei und rangierte. Kam langsam rückwärts zurück. Nun wurden unsere Wagen noch angehängt. Wir dachten „Prost Mahlzeit“. Die kleine Lok soll zwei lange Züge ziehen? Aber wir hatten die Kräfte der kleinen Lok unterschätzt. Der lange Zug setzte sich in Bewegung und raste mit D-Zug-Geschwindigkeit durch die Nacht. Wir waren froh, dass es endlich weiter ging. Doch bei Tag ging das Bummeln wieder los. Es war schon später Nachmittag, da kamen wir in Schwerin an. Aber je näher wir nach Westen kamen, um so schlimmer wurde es mit den Bomben- und Tieffliegerangriffen. Inzwischen hatten sich auch die Amerikaner in den Krieg eingeschaltet und die hatten eine starke Luftwaffe. So mußten wir in Schwerin gleich in den Luftschutzkeller. Ich war fix und fertig. Ich nahm Karin aus dem Kinderwagen. Sie war so schwach und konnte kaum noch gehen. Wir versuchten etwas Essbares aufzutreiben, aber es war nicht möglich. Die Menschen lagen alle durcheinander auf dem Fußboden herum. Manche jammerten oder weinten. Kinder schrien. Doch die meisten saßen oder lagen mit erstarrten Gesichtern apathisch da. Am Liebste wäre man für immer eingeschlafen. Ich bemerkte, wie meine Kräfte langsam nachließen. Doch die Aufregung und die Verantwortung für Karin ließ mich nicht schlafen.
Mittlerweile war es wieder Abend geworden. Ich bat meinen Mann doch noch einmal auf den Bahnsteig zu gehen und auszukundschaften, ob noch ein Zug nach Westen fährt. Nach einiger Zeit kam er zurück und berichtete, dass tatsächlich ein Zug auf einem Bahnsteig steht. Mühsam rafften wir uns hoch und gingen zum Bahnsteig. Da stand tatsächlich ein Zug. Aber er war so überfüllt, dass nichts mehr hinein ging. Wir versuchten es dennoch den Kinderwagen in ein Abteil zu schieben. Die Leute waren sehr ungehalten, aber wir schoben den Kinderwagen einfach dazwischen. Ich mußte jetzt auch noch irgendwie hinein. Ich bekam gerade noch die Beine hinein und hielt mich an irgendetwas fest. Der Schaffner knallte die Zugtür in meinen Rücken und ich fiel über den Kinderwagen. Da ging das Gekeife los. Ein Glück, dass es dunkel war. So konnte ich die aufgebrachten Gesichter nicht sehen. Man glaubt es auch nicht, was manche Leute so mitgenommen hatten. Jemand hatte einen Eimer Sirup bei sich und der war durch meinen Sturz umgekippt und zum Teil ausgelaufen. Nun klebte es überall. Die waren am schimpfen. Ich dachte die würden mich angreifen. Aber im Schutz der Dunkelheit wurden sie gehemmt. Es durfte auch keine Kerze angezündet werden. Aber im fahrenden Zug kann man nicht viel unternehmen. Ich machte mir auch Sorgen, ob mein Mann noch mit dem Zug mitgekommen war. Der kam tatsächlich nicht mehr in das Abteil hinein. Aber er war auf einen Puffer eines Wagens gesprungen und schlich sich irgendwie in ein leeres 1. Klasse-Abteil und machte es sich auf den Polstersitzen bequem. Kontrollen gab es keine. Die Leute fuhren umsonst und die Schaffner kamen auch nicht durch. So konnte mein Mann schlafen und ich mußte die Nacht wieder eingepfercht im Stehen verbringen. Es war wirklich ein Skandal, dass die Menschen in einer solchen Notsituation nicht in die erste Klasse einsteigen durften. Zumal noch Frauen mit kleinen Kindern unterwegs waren. Aber die erste Klasse war angeblich für die Parteibonzen reserviert. Doch diese waren sicher schon alle in Sicherheit.
So schuckelten wir wieder durch die Nacht. Ich dachte jeden Moment, dass ich zusammen brechen würde. Auch meine Tochter wurde immer schwächer. Sie regte sich ja auch kaum noch. Anfangs hatte ich sie bei Tag auf meinen Schoß genommen. Sie hüpfte und kreischte und entlockte manchen müden Flüchtling ein kleines Lächeln. Jetzt war sie krank und ich konnte ihr nicht helfen. Lange hätten wir das nicht mehr verkraftet. Langsam fing der Tag an zu dämmern. Zum ersten Mal sah ich die Gesichter der anderen Passagiere. Alle müde und abgekämpft. Keiner sagte etwas. Plötzlich stand eine alte Frau auf und fing an sich zu entkleiden. Angeblich fand sie ihr Nachthemd nicht. Dann drängte sie zur Tür und wollte unbedingt Brötchen holen. Es wäre schon so spät. Wir hatten Mühe sie zurück zu halten. Das war der zweite Fall den ich unterwegs erlebt habe.
Im Laufe des Vormittags erreichten wir endlich Hamburg. Beim Aussteigen fand ich meinen Mann wieder. Ich war erleichtert, dass er doch noch mit dem Zug mit gekommen war. In Hamburg gab es endlich etwas Luft. Es war nicht so ein Gedränge. N.S.V. und Rote Kreuz Schwestern liefen auf den Bahnsteigen herum. Eine Schwester nahm mir gleich den Kinderwagen ab und verschwand. Im Wartesaal wurde für uns belegte Brote und Kaffee gebracht. Endlich gab es etwas zu Essen. Aber es schmeckte mir nicht, ich war einfach zu kaputt. Ich hatte nächtelang nicht geschlafen. Aber jetzt konnte ich endlich etwas sitzen und ausruhen. Nach einer Weile ging ich auf die Suche nach Karin. Ich fand sie in einem großen Raum bei den Schwestern. Die hatten sie gebadet, frische Wäsche angezogen und trockene Windeln umgelegt. Eine Schwester bemühte sich gerade ihr einige Löffel Griesbrei einzuflösen. Aber sich hatte keinen Appetit mehr. Dann bekam ich ein neues gefülltes Fläschchen für unterwegs. Nach längerem Aufenthalt in Hamburg fuhren wir weiter nach Bremen. In Bremen bekamen wir auch wieder etwas zu Essen und Karins Fläschchen wurde neu gefüllt. Aber insgesamt war die Versorgung nicht so gut wie in Hamburg.
Wir fuhren dann weiter über Diepholz nach Neuenkirchen. Es war ein planmäßiger Zug und die Menschen hier im Westen wußten nicht was sich im Osten abspielt. Es waren erste vereinzelte Flüchtlinge bis in den Westen vorgedrungen. Die Züge waren hier nicht überfüllt und wir hatten Glück das wir Sitzplätze hatten. Um so stärker wurde ich jetzt von einer Müdigkeit ergriffen. Es war heller Tag, aber meine Augen fielen einfach zu und meine Handtasche, die ich auf dem Schoß hielt, fiel auf den Boden. Obwohl ich mich bemühte, wach zu bleiben, schlief ich immer wieder ein. Außerdem habe ich sicher nicht den besten Eindruck gemacht. Ich hatte mich tagelang nicht gewaschen und nicht gekämmt. Die Mitreisenden starrte mich neugierig an. Meine Kräfte waren aufgezehrt.
In Neuenkirchen stiegen wir aus. Der Tag senkte sich langsam zur Neige, es war ja Winterzeit. Nun mußten wir noch 5 Kilometer zu Fuß gehen. Ich sagte: „Wenn es Sommer wäre, würde ich mich erst einmal in den Straßengraben legen und ausschlafen, wie ein Landstreicher.“ Aber es war zu kalt. So wäre ich erfroren.
So drehten wir den Kinderwagen um und zogen langsam los. Wir mußten ein paar Pausen einlegen, da ich droht über meine eigenen Füsse zu stolpern. Der Flughafen, wo mein Mann als Funker stationiert war, befand sich in der Nähe eines kleinen Dorfes am Rande eines Moorgebietes. Dort hatte er Freundschaft mit einer Familie geknüpft und hoffte uns dort unterbringen zu können. Die Familie bestand aus sieben Mitgliedern: Oma, Eltern und vier Kindern. Zwei Mädchen, die schon die Schule besuchten und zwei Jungen im Vorschulalter. Die waren sehr erstaunt, als wir dort so ermattet ankamen. Sie waren sehr nett und wollten uns zuerst etwa zu Essen anbieten. Natürlich dachten sie, dass wir sehr hungrig sein würden. Aber ich lehnte ab, ich war einfach zu erschöpft noch einen Bissen herunter zu bekommen. Ich war auch nicht mehr fähig mich zu waschen. Ich bat nur um irgendein Lager, um endlich zu schlafen. Die Oma war so freundlich und überließ uns ihre Schlafkammer. Karin nahm auch nichts mehr zu sich. Sie lag apathisch im Kinderwagen und schlief meistens. Ich entkleidete mich etwas und fiel auf Omas Bett. Dann war ich weg.
Mein Mann ist noch am Abend zu seiner Wehrmachtseinheit auf den Flughafen gegangen. Er hatte seinen Urlaub um ein paar Tage überzogen. Doch er wurde nicht bestraft. Die hatten ihn schon abgeschrieben und glaubten nicht mehr, ihn jemals wieder zu sehen. Die meisten Soldaten wurden unterwegs aufgelesen, um sie noch an die Ostfront zu schicken.
Ich schlief erstmals. Nachts gab es Fliegeralarm. Die Sirene befand sich auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Ich hörte nichts. Die Familie wollten in den Kirchturm. Den suchten sie immer auf, weil sie meinten, dort besseren Schutz vor den Bomben zu haben. Sie überlegten, ob sie mich wecken sollten und schauten in die Kammer. Ich regte mich nicht. Da gingen sie alleine. Ich schlief die ganze Nacht und den nächsten Tag bis zum Abend. Als ich endlich aufwachte, kam mir das erste Mal zu Bewußtsein, was eigentlich vor sich gegangen war. In dem ganzen Wirrwarr kam man nicht zum Nachdenken. Ich war wie erschlagen. Dann erhob ich mich langsam. Ich setze mich auf die Bettkante und weinte. Karin lag wie tot im Wagen. Alles kam mir hoffnungslos vor. Kein eigenes Bett. Kein Dach über dem Kopf. Kein Zuhause. Nichts! Rings um mich herum ganz fremde Menschen. Ich raffte mich auf, um eine Waschgelegenheit zu suchen. Die Leute waren zwar nett, aber irgendwie wurde ich immer von neugierigen Blicken verfolgt. Ich kam nun mal aus einer anderen Welt und war total körperlich und seelisch ausgelaugt. Durch die körperliche Reinigung war ich etwas erfrischt. Aber es kam mir alles so sinnlos vor. Viel an Kleidung war uns auch nicht geblieben. Vieles mußten wir unterwegs stehen lassen, weil wir damit nicht voran kamen. Das Wenige was uns geblieben war, reichte kaum zum Wechseln. Aber das schlimmste war, dass Karin so krank geworden war. Sie war schon immer ein schwächliches Kind. Nun war sie so geschwächt, dass sie nicht mehr laufen konnte. Die Strapazen der Flucht waren einfach zu viel für sie. Die ersten Tage verweigerte sie die Nahrung. Mit großer Mühe konnte ich ihr etwas Tee einflössen. Sie schlief nur immer. Es gab damals auch keinen Arzt im Dorf.

Die Menschen waren auch alle beunruhigt. Deutschland stand vor dem Zusammenbruch. Die Bombenflugzeuge flogen Tag und Nacht. Das war im Osten nicht so schlimm mit den Fliegerangriffen. Hier unterstützten die Amerikaner. Alle lebten in Angst und kamen nie zur Ruhe. Ich war auch sehr herunter gekommen. Das Essen schmeckte mir nicht. Ich konnte kaum eine Bissen herunter bekommen. Der einzige Lichtblick war für mich, wenn mein Mann vom Flughafen zu Besuch kam. Das Problem war auch, dass wir bei der Familie nicht bleiben konnten. Die hatten nur eine kleine Wohnung und es war sehr beengt. Doch wohin? Die Leute hier wußten noch nicht, was auf sie zu kommen würde. Wir waren gewissermaßen die ersten Flüchtlinge im Dorf und alle weigerten sich, uns aufzunehmen. Der Bürgermeister suchte dann eine Familie aus. Auf dem Bauernhof lebten vier Personen. Ein blinder Opa, die Bauersleute und ein 14 jähriger Sohn. Außerdem war dort eine Russenfrau mit ihrem 7 jährigen Sohn untergekommen. Die war irgendwie in den Wirren des Krieges verschleppt worden. Wenn wir nun gedacht hatten, dass der Bauer uns ohne Widerstand aufnehmen würden, da hatten wir uns aber schwer geirrt. Die wehrten sich mit Händen und Füssen. So mußten wir mit polizeilichem Schutz dort eingewiesen werden. Jetzt nützte kein Sträuben mehr. Wir konnten zwei kleine Zimmer beziehen. Mir war alles so peinlich und zum Heulen zu Mute. Mein Mann hatte uns begleitet und mußte dann wieder zum Flughafen. Der Polizeibeamte hatte seine Mission erledigt und ging ebenfalls. So blieb ich dort alleine mit Karin zurück. Die Bauersfamilie ging auf Distanz. Ich begann mir die Räume anzuschauen. In einem Raum standen zwei ältere Ehebetten. Ein Schrank und eine Kommode voll mit Kleidung. Im zweiten Raum stand in der Mitte ein Esstisch, darum vier Stühle und in einer Ecke ein Kanonenofen. Außerdem stand dort eine Glasvitrine, alles überfüllt. Kein Platz, wo ich meine paar Sachen unterbringen konnte. Auch keine Kochgelegenheit: Die Bauersleute mieden uns und betrachteten uns als Eindringlinge, was wir im gewissen Sinne auch waren. Karin war immer noch sehr krank. Es war alles so deprimierend. Ich wußte auch nichts von meinen Angehörigen. Wie es denen wohl ergangen war? Es war alles so traurig und leer. Was sollte ich machen. Zu Essen hatten wir auch kaum etwas. Ich machte mir ein Bett zum Schlafen und legte mich hinein.
Und es kam ein neuer Tag. Mein Mann kam und brachte etwas Wehrmachtsgeschirr. Einige Tassen, Teller und Schüsseln. Etwas habe wir heute noch davon. Außerdem brachte er eine kleinen elektrischen Kocher. Er konnte nie lange bleiben. Als er wieder gegangen war, raffte ich mich auf und schob mit dem Kinderwagen ins Dorf um etwas einzukaufen. Überall wurden wir neugierig betrachtet.
Als ich wieder in meiner neuen Behausung eingetroffen war, machte ich mich daran etwas zu kochen. Jeder Schritt und Tritt wurde von allen kontrolliert. Ich hätte ja auch etwas stehlen können. In den nächsten Tagen kam eine N.S.V. Schwester auf. Die hatten wohl von unserem Schicksal gehört. Ich war sehr froh doch etwas Anteilnahme zu erhalten. Sie sah sich auch Karin an und gab mir etwas Babynahrung, Trockenmilch und auch Medikamente. Am nächsten Tag konnte dann mein Mann von der N.S.V. Stelle ein Kinderbett und einige Kindersachen sowie eine Babywanne und außerdem eine paar nützliche Sachen für den Haushalt holen. Ich war sehr erfreut.
Nach 1 ½ Wochen kam ein ganzer Flüchtlingstransport aus Pommern. Da bekam jeder Bauer Flüchtlinge einquartiert. Nun waren meine Bauersleute aber froh, dass sie nur eine Frau mit einem Kind abbekommen hatten. Denn viele Frauen hatten ja mehrere Kinder. Auch ihre Nachbarn haben mehrere Personen aufnehmen müssen. Langsam taute ihre Eiseskälte gegen uns auf.

Der Krieg war immer noch nicht zu Ende. Sie wußten auch noch nicht was ihnen bevor stand. Es gab fast jeden Tag Fliegeralarm. Aber meistens überflogen die Bomber nur unser Gebiet. Es war die Fluglinie nach Berlin. Berlin wurde in dieser Zeit fast Tag und Nacht angegriffen. Ich hatte bis dahin noch keinen richtigen Angriff mitgemacht. Das sollte aber noch einmal kommen. So langsam gewöhnten sich die Bauersleute an uns Eindringlinge. Sie machten Versuche uns auszufragen. Leider war die Verständigung anfangs sehr schwierig, da die Bauersleute nur das landestypische Plattdeutsch sprachen. Oft mußte ich zwei bis dreimal fragen, um etwas zu verstehen. Manchmal mußte der 14 jährige Sohn dolmetschen. Verschiedene Ausdrücke hatten nicht im Entferntesten eine Ähnlichkeit mit der hochdeutschen Sprache. So geschahen manchmal die tollsten Missverständnisse. Ein Beispiel möchte ich erwähnen. Wenn es Fliegeralarm gab, verteilten die Leute ihre Koffer, in denen sie ihre kostbarsten und wichtigsten Sachen aufbewahrten, an verschiedene Stellen des Grundstücks. Inzwischen hatte mir mein Mann noch einen Holzkoffer gebracht, in dem ich auch meine wichtigsten gebräuchlichen Sachen aufbewahrte. In den Schränken in meinen Zimmern war ohnehin kein Platz. Der Sohn, der ein kräftiger Bursche war, mußte immer die Koffer verteilen, dass im Falle einer Angriffes nicht alles vernichtet würde. Prompt nahm er auch meinen Koffer mit meinen armseligen Habseligkeiten. Nach dem Alarm stellte er alle Koffer in die Scheune, damit sie im Falle eines Regenschauers nicht naß würden. Gegen Abend wollte ich meinen Koffer hinein holen. Da der Sohn nicht da war, fragte ich die Bäuerin, wo der Koffer sei. Sie antwortete: „ Achtern in hiehen Deskkusen.“ Ich überlegte, was das bedeuten könne und fragte noch einmal und bekam die gleiche Antwort. Es war mir unangenehm noch einmal zu fragen und so ging ich auf die Suche in der Hoffnung meinen Koffer zu finden. Ich klapperte alles ab. Diele, Keller, Stall, sämtliche Gebäude. Es wurde schon dunkel. Ich lief durch die Scheune, plötzlich stolperte ich über den Koffer.. Jetzt wußte ich endlich, was „achtern niehen Deskkusen“ bedeutet „hinten im neuen Dreschhaus“. Oft mußte ich noch Rätzelraten, doch langsam gewöhnte ich mich an ihre Sprache. Langsam lernten wir uns näher kennen und sie stellten fest, dass ich weder klaute, noch ihnen sonst etwas an tun wollte.

Dann kam der Tag an der Flugplatze und zwei weitere, die sich in der Nähe befanden mit mehr als tausend Bombern angegriffen wurden. Die Bauersleute und der Sohn setzten sich auf ihre Fahrräder. Sie nahmen auch den russischen Jungen mit und fuhren zum weit entfernten Bunker. Nur ich blieb mit Karin und dem blinden Opa alleine zurück. Ich hatte bisher wenig Erfahrung mit Bombenangriffen. Mein Mann hatte mir nur gesagt, ich sollte mich wegen der Splitter in den ausgeschaufelten Graben legen, der sich vor dem Haus befand. Das tat ich dann mit Karin im Arm. Opa blieb alleine im Haus zurück. Die Bomber rückten an. Sie brummten schwer unter ihrer Last. Dann warfen sie ihre Bomben in Etappen ab. Die Erde erzitterte und der Himmel verfinsterte sich. Immer näher kamen die Bomben. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine solche Angst gehabt. Ich dachte die nächste, könnte uns treffen. Karin wollte sich immer aufrichten, ich mußte sie mit Gewalt hinunter drücken. Endlich wurde es ruhiger. Anna die Russin kam außer Atem vom Feld, lehnte sich an einen Baum und bekreuzigte sich. Dann fragte sie mich wo ihr Sohn sei. Im Haus waren die Jalousien herunter gefallen und einige Fensterscheiben geplatzt. An diesem Tag gab es in dem Dorf 3 Tote und einige Häuser wurden beschädigt.
Kurze Zeit später wurde das Dorf noch einmal von Tieffliegern angegriffen. Das ging so schnell. Karin spielte im Sandkasten vor dem Haus. Plötzlich brummten die Flugzeuge und schon knallte es. Ich rannte hinaus, griff Karin am Arm und lief mit ihr in das Haus zurück. Mit der Bäuerin liefen wir panisch hin und her und wußten nicht, ob wir in den Keller oder sonst irgendwo hin sollten. Überall knallte es. Aber so schnell, wie der Spuck gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Plötzlich kamen die Pferde alleine auf den Hof galloppiert. Sie waren ganz verstört. Der Bauer und sein Sohn hatten sich in den Graben geworfen. Im Dorf brannte es. Es war gerade zur Mittagszeit. Im Dorf gab es ein Schwesternhaus. Die Schwestern wollten gerade zu Mittag essen. Sie saßen aber noch nicht am Esstisch, als eine Bombe genau in den Raum einschlug. Eine Schwester, die gerade die Suppe hinein trug, wurde am Arm verletzt, alle anderen hatten Glück gehabt. Bei dem Angriff wurde ein Mann getötet. Ein Stall wurde in Brand gesetzt und durch einen Kurzschluß 5 Kühe getötet.
In der Zeit wagte ich mich kaum ins Dorf. Die Tiefflieger rasten noch oft über uns hinweg. Aber wir mußten doch mal etwa zu Essen kaufen. Mein Mann hatte mir inzwischen ein altes Fahrrad zusammen gebaut und ein Kinderkörbchen besorgt. Damit fuhr ich in das Dorf zum Einkaufen. Ich war dann nicht so lange unterwegs.

Die Zeit ging weiter. Die Natur erwachte im Frühling. Es war ein schönes Frühjahr. Doch man spürte es nicht. Man hörte keinen Vogelgesang und nahm auch nicht wahr, wie alles grün wurde. Man lebte wie im Traum. Die Heimat war weit weg. In der Hektik und der ständigen Angst kam man nicht zum Nachdenken. Damals konnten wir uns noch nicht vorstellen, nie wieder nach Hause zurück zu kommen. Alles war so unglaublich schwer und sinnlos. Ostern rückte näher. Ich erinnere mich an den Palmsonntag. Es schien ein sehr schöner Frühlingstag zu werden. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Doch gegen 11 Uhr wurde Osnabrück, das in der Nähe liegt, angegriffen und bombardiert. Da stiegen innerhalb einer halben Stunde die Rauchwolken auf und verfinsteren den Himmel und die Sonne verschwand. So wurden in den letzten Kriegswochen die deutschen Städte und das ganze Land in Schutt und Asche gelegt und unsere Hoffnung, jemals wieder nach Hause zurück zu kommen, sank mit jedem Tag. Aber so wie alles einmal zu Ende geht, rückte auch das Ende des Krieges immer näher.
Mein Mann kam eines Tages und berichtete ganz aufgeregt, dass er jetzt auch noch an die Westfront müsse, die immer näher rückte. Das war für uns sehr schmerzlich. Nach ein paar Tagen kam er von der Front mit ein paar toten Kameraden zurück, die im Dorf beerdigt werden sollten. Dann mußte er wieder weg und ich hörte lange nichts von ihm.
Es kam der Tag, den die einheimische Bevölkerung Befreiung nannte. Ein paar englische Panzer rollten in den Ort ein. Alle waren fürchterlich aufgeregt. Die Bäuerin ergriff einen Besenstiel, hängte ein weißes Bettlaken darüber und steckte es zum Fenster raus. Es war ein großes Durcheinander.
Viele deutschen Soldaten waren von ihren Einheiten versprengt. Einige setzten sich selber ab, weil alles sinnlos war und es nichts mehr zu retten gab. Zwei deutsche Soldaten tauchten auch auf dem Bauernhof auf. Sie bekamen etwas zu essen, aber dann mußten sie weiter, obwohl sie gerne die Dunkelheit abgewartet hätten. Ich dachte oft an meinen Mann, wo er wohl war. Ob er noch lebte? Inzwischen hatte sich auch mein Mann von seiner Truppe abgesetzt. Er kannte sich in der Gegend schon etwas aus. Auf Schleíchwegen hatte er sich bis in die Nähe in das Moor durchgeschlagen. Bei Verwandten der Familie, wo ich zuerst untergekommen war, bekam er Zivilkleidung. Anschließend hat er seine Uniform, die Waffe und andere Dinge im Moor vergraben. Dann hielt er sich noch einige Tage dort auf. Eines Tages tauchte er wieder bei uns auf. Ich war sehr froh darüber. Aber ich hatte auch Angst, dass die Engländer ihn finden könnten und er noch in Gefangenschaft kommt. Es ist aber, Gott sei Dank, gut gegangen. So hielt er sich auch auf dem Bauernhof auf. Um nicht herum zu sitzen, half er dem Bauern mit der Frühbestellung auf dem Feld und verrichtete sonstige Arbeiten. Wir hatten ja auch keine Einkünfte, dafür bekam er dann das Essen. Ich mußte mich mit Karin weiter selbst beköstigen. Außerdem mußten wir für die zwei Zimmer Miete bezahlen, so war unser Bargeld bald aufgebraucht. Von unserem Sparbuch konnten wir nichts abheben, weil wir das Geld bei einer Bank in Westpreußen eingezahlt hatten. Auf meinem Postsparbuch hatte ich noch 200 Reichsmark. Unter diesen Umständen fing ich auch an auf dem Hof zu helfen, um zu überleben. Der Flugplatz wurde dann aufgelöst. Mein Mann brachte noch etwas Militärgeschirr, dass auf der Unterseite mit dem Hakenkreuz versehen war. Außerdem auch rot- und blaukarierte Bettwäsche und einige Bettlaken. Die Bäuerin erlaubte mir die Nähmaschine zu benutzen. Ich nähte von der Bettwäsche Kleider und Schürzen für Karin und für mich. Die Bettlaken brachten wir nach Neuenkirchen in ein Geschäft, die diese bedruckten und einfärbten. Danach brachte mein Mann noch einen Kühlschrank und einen Räucherschrank. Die Schränke mußten wir später wieder abgeben, aber wir hatten auch nichts in den Kühlschrank zu stellen oder zu räuchern. Das weiteres Kleid für Karin nähte ich aus einer Hakenkreuzfahne, die ich von der Bäuerin geschenkt bekam. Ich trennte das weiße Feld heraus. Von dem roten Stoff nähte ich ein kleines Kleidchen, dass ich am Saum noch bestickte.
Ich ging jetzt häufiger mit auf das Feld, um zu helfen. Dafür bekam ich für mich und Karin das Mittagessen. Für das Frühstück und das Abendessen mußten wir noch selber sorgen. Dann gab es aber einen Zwischenfall. Der Opa pellte Bohnen. Karin saß zu seinen Füßen und spielte. Da er fast blind war, bekam er nicht mit, dass sie sich ein Bohne in das Nasenloch steckte. Sie begann zu weinen und versuchte mit dem Finger die Bohne heraus zu holen. Die Bäuerin kam dazu und versuchte auch die Bohne zu entfernen. Leider gelang es ihr auch nicht, die war schon zu weit hinein gerutscht. In ihrer Sorge und Not wußte sie erst nicht, was sie machen sollte. Im Dorf gab es keinen Arzt. Aber beim Nachbar wohnte ein sogenannter B-Soldat. Das waren deutsche Soldaten, deren Heimat im Osten war und die jetzt nach der Entlassung aus der Wehrmacht nicht mehr nach Hause konnten. Dieser besagte B-Soldat war im Krieg Sanitäter gewesen. Zum Glück gelang es ihm mit einer Pinzette die Bohne aus der Nase zu entfernen. Die Bäuerin war so geschockt, dass sie seit diesem Tag nicht mehr Karin beaufsichtigen wollte. Somit mußte ich wieder zu Hause bleiben. Ich übernahm dann häufiger das Kochen. Aber auch das war nicht unproblematisch. Im Osten wurde anders gekocht als in Westdeutschland. Als Beispiel hat man hier die Enten gekocht und wir haben sie in Westpreußen im Backofen gebraten. Die Männer mochten mein Essen lieber und äußerten auch, dass ich immer kochen sollte. Deshalb war die Bäuerin eifersüchtig und ich mußte auch wieder aus der Küche weichen.

Mittlerweile war Deutschland total zusammengebrochen. Am 8. Mai 1945 war der zweite Weltkrieg beendet. Wir lebten noch eine Weile in dem kleinen Dorf, bis meine Mann eine Stelle in einem anderen Ort, der ca. 15 Kilometer entfernt war, gefunden hat. Dorthin sind wir dann gezogen. Wir hatten anfangs auch nur zwei Zimmer bei einem Bauern.
In den nächsten Monaten kamen dann die Schwestern meines Mannes mit der Mutter und ihren Kindern mit zwei Pferdewagen. Sie waren an der Ostsee entlang nach Schleswig-Holstein geflüchtet. Über das Rote Kreuz habe sie erfahren, dass der Bruder in Niedersachsen lebte. Sie haben dann einen Antrag gestellt und kamen schließlich auch zu uns. Auch die anderen Verwandten, auch aus meiner Familie sind nach und nach zu uns gekommen. Mein Stiefvater ist auf der Flucht getötet worden. Von hier suchten alle eine Arbeit und leben heute in ganz Deutschland an verschiedenen Orten.
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